Clemens Nissen über unseren Themenband:
In der 36. Ausgabe feiert Exodus das 30-jährige Bestehen der Phantastischen Bibliothek Wetzlar mit einer ganzen Reihe von Grußworten bekannter SF-Schaffender und präsentiert eine Vielzahl von Geschichten, die sich um Büchersammlungen drehen: Christian Endres erzählt in „Wölfe lesen nicht“ den Versuch, die miniaturisierte Version einer gewaltigen Bibliothek durch unwegsames, unsicheres Gelände in einen Bunker zu verbringen. SF mit Western-Anklängen.
Ähnlich abenteuerlich und actionreich geht es in der Geschichte „Durch die Zeitwüste“ von Christan Weis zu. Ein irdischer Kampf um Freiheit und Erkenntnis, der mit einer Reise zu den Sternen endet.
Recht prägnant und einfallsreich ist Wolf Wellings Erzählung „Schutzengel“. Sein Augenmerk gilt weniger den Beschützten als denen, die den Knochenjob erledigen. Ein Höhepunkt des Magazins.
Viel Humor bietet auch Victor Boden in „Immer diese Zeitgeschichten“ - mit einer Bibliotheksmaschine, die an Verstopfung leidet, einem fliegenden Bus und Smartphone-Abhängigen.
Hans Jürgen Kugler entführt die Leser unter dem Motto „Die Gedanken sind frei“ in einen körperlosen Bewusstseinszustand, der vor Glück entrückt scheint.
In Uwe Posts „Für immer halb elf“ begegnet ein Junge einem untoten Bürgermeister - in einer Bibliothek, die niemand braucht.
Satirischen Einschlag hat die Geschichte „Die Nietzsche-Druckmaschine“, die der mittlerweile verstorbenen SF-Schriftsteller Manfred Borchard verfasst hat. Ein nicht ganz ernstgemeinter Traum von einem perfekten, kolossalen Gerät.
Tino Falke nimmt in „Mandragora Schmidt gegen den Kristall der Zeit“ die Fans von Serienhelden auf den Arm und aufs Korn.
In Michael Siefeners „Eine Bibliotheksphantasie“ findet ein Erbe im Nachlass das Tagebuch einer verstorbenen Tante, in dem sie darüber berichtet, Bilder erworben zu haben, die Bibliotheken zeigen, die sie dem Okkultismus näher brachten… Aber lest selbst.
In „Der Raum zwischen den Worten“ schildert Uwe Herrmann die Begegnung mit einem außerirdischen Bibliotheksraumschiff, das auf dem Mars gelandet ist.
Als „Relikt aus phantastischen Zeiten“ stellt Jacqueline Montemurri eine Büchersammlung in einer zukünftigen Welt vor, in der die Menschheit sich weitgehend in Unterwasserstädten einrichten muss.
Auch die Geschichte „Der Pilz“ von Fabian Thomaschek spielt in einer untergegangenen Welt. Die irdische Atmosphäre ist gekippt. Die noch verbliebenen Menschen leben in Notfallstationen und leiden am Einfluss einer Bibliothek.
Lesenswert sind die Geschichten alle.
Einen zweiten Schwerpunkt in EXODUS 36 bildet der 90. Geburtstag von Herbert W. Franke. Franz Rottensteiner und Karsten Kruschel stellen sein Werk vor, eine ganze Reihe von Gratulanten schließt sich an.
In Exodus 36 reizt jedoch nicht nur das geschriebene Wort, sondern die Ausgabe quillt über vor opulenten Grafiken. Jede Geschichte ist ansprechend illustriert. Hinzu kommen die Comics „Draculas Atelier“ und „Bücherwurm“ von Kostas Koufogiorgos und „Ein seltsamer Tag – die Bibliothek der untergegangenen Zivilisationen“ von Olaf Brill und Michael Vogt, die in Zeichenstil und Inhalt ein breites Spektrum eröffnen. Dirk Alt stellte unter dem Titel „Arkanes Wissen – phantastische Bibliotheken“ die Zeichner Meike Schultchen, Oliver Engelhard, Lothar Bauer, Mario Heyer, Mario Franke und Thomas Franke mit Proben ihres Schaffens, einer Galerie, vor. Ralf Boldt bringt uns „Computergrafik und mehr“ in Wort und Bild nahe.
Exodus 36 ist ein prächtiger, prall gefüllter Themenband. Man könnte mit ihm bei Jugendlichen gut für phantastische Literatur werben, wenn es nicht in den ersten beiden Geschichten einige drastische Gewaltszenen gäbe. Abgesehen von dieser verpassten Chance gibt es wenig auszusetzen. Eine sehr schöne, interessante Lektüre.
Clemens Nissen in Andromeda Nachrichten 259
(SFCD e.V., April 2017, 116 Seiten A4, EUR 8,00 - ISSN 0934-3118)