NACHTSCHICHT
von Thomas Kolbe
Erst die Hälfte der Schicht um. Und ich bin schon so müde. Gestern den normalen Dienst auf der Station, Visiten, Krankenakten auf den neuesten Stand bringen und der übliche Verwaltungskram. Und dann gleich im Anschluss die Nachtschicht. Eigentlich habe ich sonst nichts dagegen. Meist ist nicht viel los. Zeit zum Nachdenken. Aber jetzt ist erst einmal Zeit für einen Kaffee. Mal sehen, was der Nahrungssyntho so fabriziert.
Nahrungsmittel lassen sich einfach nicht durch Aminosäuregehalt, Spurenelemente und pH-Wert beschreiben. Entsprechend fad ist das Ergebnis des Automaten. Nur der Koffeingehalt passt wie voreingestellt. Ich war schon mal in Versuchung, mir echte Kaffeebohnen zu bestellen. Hätten mich aber ein ganzes Jahresgehalt gekostet. Auf einer Raumstation sind Lebensmittel von echten mehrzelligen Pflanzen, gewachsen in Erde auf einer Planetenoberfläche, einfach ein extremer Luxus. Auf dieser zentralen diplomatischen Station wären sie zumindest überhaupt zu erhalten gewesen. Die andere Möglichkeit ist Schmuggelware von diversen Habitaten. Billiger, aber immer noch teuer. Und man weiß nie, was man wirklich bekommt. Angeblich produzieren die Gentechniker diverse Produkte an ein und derselben Pflanze. Da vergeht mir der Genuss am Kaffee, wenn ich daran denke, dass die Kaffeepflanze vielleicht auch Medikamente in den Blättern produziert und mit den Wurzeln Schwermetalle fixiert.
Als ich noch mitten in meinem Medizinstudium steckte, hätte ich mir nie träumen lassen, dass sich mein Leben, ja das Leben der gesamten Menschheit, derartig rasant und drastisch verändern würde. Der erste außerirdische Kontakt war eine Sensation, natürlich mit allen schon lange postulierten Ängsten und Phobien vor einer außerirdischen Invasion und Versklavung verbunden, die einige skurrile Schriftsteller schon lange vorher daherphantasiert hatten. Der Verblüffung folgte Ernüchterung und schließlich eine gewisse Frustration, als die Menschen begriffen, dass es dort im All einen ganzen Haufen intelligenter Spezies gab, die schon lange in mehr oder weniger intensivem Austausch standen, und die Menschheit nur eine kleine, unbedeutende Population am Rande des zivilisierten Weltalls war, die aufgrund eines Routineverfahrens in ihrem Raumsektor in diese Gemeinschaft aufgenommen wurde. Die Menschheit war hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Xenophobie. Es gab gewaltige Umwälzungen auf dem Planeten Erde. Als ich meinen Abschluss machte, begann man zu verstehen, dass sich Marktwirtschaft auch in den Handelsbeziehungen zwischen außerirdischen Zivilisationen widerspiegelt. Wir hatten uns so viel erhofft: einen überlichtschnellen Raumantrieb, Heilmittel gegen Krebs und vieles mehr. Nun, was die Medizin angeht, so sind wir nach wie vor weitgehend auf uns selbst gestellt, da keine andere Intelligenz die menschliche Physiologie gut genug versteht, um auf die Schnelle etwas Interessantes anbieten zu können. Und was den Raumantrieb angeht, den musste sich die Menschheit kaufen. Und hat sich dafür für die nächsten 150 Generationen verschuldet. Was hätten wir sonst zu bieten gehabt? Die anderen ließen uns gutmütig bei ihren Transaktionen zuschauen und ab und zu ein bisschen mitspielen. Die Menschheit hatte halt einen gewissen Unterhaltungswert, war aber weder technisch noch von den Bioressourcen her in der Lage, mit den anderen in einer Liga mitzuhalten. Wenn die anderen etwas an den Menschen schätzten, dann war es ihre Flexibilität und ihr Improvisationsvermögen.
Nur wenige Jahre später machte ich meinen Facharzt und meldete mich auf eine etwas merkwürdige Stellenanzeige in einer Medizinerzeitschrift ...
... Lesen Sie weiter in EXODUS 42!
© Thomas Kolbe
Erstveröffentlichung für EXODUS 42
Illustration (Ausschnitt) © Oliver Engelhard