Die zweiundzwanzigste „Exodus" Ausgabe war im Gegensatz zu einer Reihe von Heften früheren Erscheinungsdatum schon länger vergriffen. Da die Herausgeber mit den nächsten Ausgaben erst auf eine blaue Titelschrift und später auf Farbe insbesondere in den immer wieder sehenswerten graphischen Teilen gewechselt sind, bot sich im Grunde ein Nachdruck in Form einer farbigen „Komplettsanierung" gerade zu an. Jetzt liegt die Ausgabe mit dem auffälligen umlaufenden Titel von Mario Moritz als Neuauflage vor.

Uwe Posts Geschichte „Instant Man" eröffnet die EXODUS 22 Ausgabe. Bizarre wie rückblickend verblüffend einfache Ideen sind inzwischen zu Uwe Posts Spezialität geworden. Anstatt willige Helfer zu klonen, kann man sie - wie Tütensuppe durch Aufgießen und drei Stunden ziehen lassen - „züchten". Allerdings gibt es Gesetze, die einen Missbrauch verhindern sollen. Mittels eines Spezialchips gibt es zumindest in der Theorie eine gewisse Überwachung. Aber auch Neoterroristen haben den einmaligen Wert dieser Instantmenschen erkannt. Neben der brillanten Idee, die einfach von Uwe Post ohne wissenschaftliche Erklärung in den Raum gestellt wird, überzeugt Posts experimentierfreudiger Stil. Handlungstechnisch wirkt allerdings die Ermittlungsarbeit des Polizisten im Fall des missbrauchten Instant Man zu oberflächlich, zu fragmentarisch, um wirklich überzeugen zu können. Auch fehlt der Geschichte eine emotionale Ebene, welche die beschriebenen Ereignisse greifbarer, zugänglicher gemacht hätte. Vielleicht kann Uwe Post „Instant Man" irgendwann zu einer längeren und besser strukturierten Novelle ausarbeiten. Die Grundidee bürgt ausreichend Potential.

Thomas Franke ist nicht nur mit zwei ansehenswerten Collagen vertreten, sondern steuert aus seinem im Arbeit befindlichen Weird Fiction Zyklus „Literarische Miniaturen" zwei kurze Vignetten bei: „Im Albbyss, keine Zeit mehr" und „Das Tier" überzeugen durch die intensive Sprache, mit der Franke im Grunde seine eigenen Bilder beschreibt, den ersten Eindruck intensiviert und versucht, eine Verbindung zwischen Bild und Wort zu schaffen. Als Geschichten an sich können und sollen wahrscheinlich die deutlich zu kurzen, in erster Linie stimmungsabhängigen Texte nicht zufriedenstellen.

Im Grunde leidet Olaf Kemmlers Kurzgeschichte „Herr der Sterne, Herr der Schmerzen" unter einer ähnlichen Problematik. Der Plot an sich ist für die gewählte Länge des Textes zu dicht und das Gesamtgebilde wirkt unharmonisch. Vor allem kommt auf die Auflösung zu schnell und zu durchkonstruiert, um wirklich zu überzeugen. Wenn der Weltenvernichter im eher metaphorischen Sinne so leicht zu durchschauen und damit auszuschalten ist, stellt sich dem Leser unwillkürlich die Frage, warum es nicht andere vorher versucht haben. Die Charaktere sind zu rudimentär entwickelt, der Leser wünscht sich weitere Informationen über die einzelnen, in ihrer Zeichnung fremdartig Figuren. In der Kurzgeschichte steckt sicherlich ein längerer Text, der ambitioniert und vor allem etwas vielschichtiger entwickelt eine sehr gute Novelle mit dreidimensionalen Figuren, exotischen Hintergründen und einer vielleicht noch ein wenig mehr pointierten Auflösung sein könnte. Zu den schwächsten Storys der Sammlung gehört Christian Weis „Der Bethagi- Zwischenfall". Die grundlegende Idee einer Simulation, die sich plötzlich als real erweist und doch wieder einen Hacken in sich bürgt, ist mehrfach überzeugender und vielschichtiger abgehandelt worden. Es sind aber vor allem die eher eindimensionalen Figuren, deren plötzlich absolut hektisches Handeln zu wenig erklärt wird. Alle emotionalen Zwischentöne fehlen in dieser auch stilistisch eher routiniert geschriebenen Geschichte. "Mitten in das Leben" – der Titel ist ein Zitat von Karl May – aus der Feder Guido Seifferts versucht die Drogenabhängigkeit des Protagonisten mit einer durchaus ansprechenden Hintergrundhandlung zu verbinden, wobei in dieser konzentrierten Form vieles, vielleicht sogar zu vieles ausgesprochen vage bleibt. Zusammenfassend bieten Kemmler, Weis und Seifert reine Ideen ohne sehr viel literarisches Feingefühl an. Alle Geschichten erinnern an die erste neue deutsche Science Fiction Welle in den achtziger Jahren, als die vielen jungen Autoren sich überambitioniert an ihren Ideen versuchten, ohne die Grundlagen der reinen Erzählung zu berücksichtigen.
Frank Neugebauers „Kentaurische Affären" dagegen überspannt den Bogen ins Groteske. Jede der Episoden angeblich aus den Geheimarchiven des Kremls ist eine kleine Geschichte. Sie sind im distanzierten insbesondere für die osteuropäische Science Fiction so typisch sachlich- emotionslosen Stil geschrieben. Manche der Episoden wirkt ein wenig zu überdreht, aber das Gesamtbild ist unterhaltsam und originell.

Die längste Geschichte „Besucher aus der Ferne" aus der Feder Helmut Hirschs erreicht schon die Dimension einer Novelle. Dank Hirschs sehr gut zu lesenden, unauffälligem, aber beschreibenden und ausdrucksstarken Stil sowie seinen mit wenigen Strichen gut gezeichneten Figuren funktioniert die Retro „First Contact" Geschichte ausgesprochen gut. Plottechnisch birgt sie bis auf die solide Pointe nur wenige Überraschungen, aber die Begegnung der von gut zweihundert Jahren auf dem Waldplaneten Nomori gelandeten Menschen mit ihren von der Erde kommenden Nachfahren ist der Katalysator für ein Hinterfragen der eigenen, sich inzwischen hervorragend an die fremde Umwelt angepassten Kultur. Die inneren Konflikte der Siedler hätten sogar noch ausführlicher herausgearbeitet werden können und Monas Motivation, den eigenen Planeten für eine Reise zur Heimat der Menschen zu verlassen, vielleicht noch etwas nuancierter beschrieben werden können. Inzwischen ist in einer weiteren „Exodus" Ausgabe eine Fortsetzung zu „Besucher aus der Ferne" erschienen. Bedenkt man weiterhin, das es sich erst um die zweite veröffentlichte Story Helmut Hirschs handelt, bildet sie zusammen mit dem Nachdruck der Geschichte der Eheleute Brauns den literarischen Höhepunkt der vorliegenden „Exodus" Ausgabe.

Einen Nachdruck aus „Lichtjahr 7" – da dieser Almanach schon nicht mehr Bestandteil der regulären jährlichen Veröffentlichung im Verlag „Das neue Berlin" gewesen ist, dürfte die Parabel kaum bekannt sein – stellt „Das Mädchen von der Mondstraße" der Eheleute Johanna und Günther Braun da. Eine wunderschöne satirische Geschichte, feinsinnig geschrieben. Die Kritik auf die Wohlstandsgesellschaft mit ihrem Besitzdrang versteckt sich zwischen vielen kleinen Anspielungen auf die Welt abgewandte Science Fiction Gemeinde mit ihrem irrigen Streben nach einer fiktiven Perfektion insbesondere in dem ihr nicht selten unbekannten Bereich der Liebe. Der Humor ist pointiert, aber nicht aggressiv; die Charaktere ohne großen Aufwand vielschichtig und sympathisch gezeichnet. Stilistisch wie inhaltlich gehört „Das Mädchen von der Mondstraße" zu den Höhepunkten dieser „Exodus" Ausgabe. Mit den Versatzstücken in seiner stilistisch durchgeplanten, aber emotionslosen Kurzgeschichte spielt auch Andreas Debray in „Morgen im Hominidenpark". Sich überwiegend auf Dialoge konzentriert steuert der Autor die eher nichts sagende Pointe sehr direkt an. Eher ein literarisches Experiment als solide Unterhaltung.

Wolfgang G. Fienholds „Wie die Welt entstand" ist eine kurze Humoreske, deren Inhalt sich im Titel widerspiegelt. Nett geschrieben, aber irgendwie weder überraschend noch wirklich tiefsinnig.
Im Gegensatz zur Erstauflage kommen die großformatigen Computergraphiken Mario Moritzs unter dem Galerietitel „Welten in Bryce" natürlich deutlich besser zur Geltung und wirken im Vergleich zu den ursprünglich in schwarzweiß veröffentlichten Abdrucken weniger glatt, sondern exotisch farbenfroh. Udo Moersch stellt den Künstler in seiner Einleitung ein wenig ambivalent bis hilflos vor. Während die persönlichen Daten notwendig und erwünscht sind, eiert der Autor hinsichtlich der Einschätzung von Mario Moritzs Werk ambivalent bis zu positiv herum und entwickelt keine eigene Position. Mario Moritz selbst gibt am Ende der Bildergalerie einige Hinweise auf die technische Entstehung seiner Bilder. Weiterhin werden die kurzen beschreibenden Texte nachgedruckt. Die eigentlichen Zeichnungen inklusiv des umlaufenden, jetzt auch in Farbe erstrahlenden Covers sind farbenprächtig, aber nicht zu grell. Auch wenn es vermessen klingt, es sind die außerirdischen Lebensformen, die irgendwie zu „künstlich", zu computerisiert erscheinen. Zusammengefasst sind die „Welten in Bryce" als Computerzeichnungen zu erkennen. Sie wirken insbesondere im Vergleich zu den per Hand gemalten Arbeiten zu glatt, zu perfekt und damit leider auch ein wenig leidenschaftslos. Positiv gesprochen ist es aber sehr gut, das die Exodus- Redaktion die ausgetretenen Wege verlässt und auch nach „neuen" Talenten Ausschau hält, die sie in einem drucktechnisch gebührenden Rahmen ausführlich vorstellen.

Die Qualität der Graphiken außerhalb Mario Moritzs Galerie ist unterschiedlich. Einige Zeichnungen wirken zu statisch, sie erfüllen zwar ihren originären Zweck, die entsprechenden Geschichten zu illustrieren, sie regen aber zu wenig die Phantasie der Leser an. Der Computer als künstlerischer Gehilfe ist zu offensichtlich zu erkennen. Aus der Vielzahl der graphischen Arbeiten ragen allerdings Thomas Hofmann – „Besucher aus der Ferne" und Robert Straumann – „Das Mädchen von der Mondstraße" heraus.
Die Kurzgeschichten in der zweiundzwanzigsten „Exodus" Ausgabe sind von sehr unterschiedlicher Qualität bei einem breiten Themenspektrum. Keiner der Texte ist wirklich langweilig. Entweder werden bekannte Ideen interessant neu herausgearbeitet oder neue Ideen manchmal ein wenig zu experimentell „verpackt". Wie schon angesprochen ragen nur drei Texte – Helmut Hirsch, die Eheleute Braun und schließlich auch Uwe Posts Auftaktgeschichte – wirklich aus dem Angebot heraus. Es sind aber insbesondere Mario Moritz jetzt farbige Zeichnungen, die diesem Nachdruck einen besonderen Flair verleihen. Zusammengefasst eine gute, keine überragende, aber vor allem eine empfehlenswerte „Exodus" Ausgabe.

rezensiert von Thomas Harbach auf SF-Radio.net