Das Thema „Von fernen und anderen Reisen" bietet erstaunlich viele Variationen. Die Herausgeber haben in ihrem Vorwort darauf hingewiesen, das die Anzahl der Beiträge zu Themenbänden geringer, die Qualität aber deutlich höher ist. Die hier gesammelten Geschichten unterstreichen diesen nicht nach Eigenlob klingenden Tenor, nach der etwas schwächeren siebenundzwanzigsten Ausgabe gehört die neue Nummer zu den besten Heften der letzten Jahre.

Helmuth W. Mommers eröffnet den Reigen mit der unterhaltsamen Farce „Goodbye, James!", in der die Verwechselung eines einfachen Koffers – Aluminium – die Welt eines einfachen, bodenständigen Handelsvertreters einstürzen lässt. Ausschließlich aus dessen subjektiver, nicht ganz ernster Perspektive erzählt spannt Mommers den Bogen von den James Bond Filmen – daher die Anspielung im Titel – zu klassischeren Science Fiction Sujets, die stilistisch erstaunlich offensiv und vor allem positiv verspielt kurzweilig miteinander kombiniert. Das Ende ist konsequent und vor allem nicht belehrend bemüht. Eine seiner besten Geschichten, die vor allem inhaltlich auf allen Ebenen überzeugen kann.


Die zweite Zeitreisegeschichte aus der Feder Gundula Sells "Der Grünspan" ist der umfangreichste Texte der vorliegenden "Exodus" Ausgabe. Er zeigt die Stärken und Schwächen des Genres zugleich. Wie Walt Disneys berühmter Zauberlehrling versuchen zwei Männer mit einer natürlich experimentellen Zeitmaschine im Verborgenen zu spielen. Wie in zahllosen anderen Pointen getriebenen Geschichten ist am Ende trotz endloser Bemühungen nicht wieder alles so, wie es zu Beginn der Experimente gewesen ist. Während die grundlegende Erzählstruktur rückblickend zu genretypisch, zu wenig provokant originell ist, überzeugen allerdings Stil und Hintergrund. Die Geschichte spielt in einer Art Steampunk Zeitalter der Erleuchtung, in dem die Autorin zahlreiche verschiedene Elemente zusammengemischt hat. Impliziert hat der Leser den Eindruck, die erste Holzzeitmaschine vor Augen zu haben. Darüber hinaus sind die Figuren in ihrer Tragik solide bis überzeugend gezeichnet. Die schwülstigen Dialoge sowie die spärlichen, aber effektiven Hintergrundbeschreibungen lassen den Leser den bekannten Plot während der Lektüre vergessen

Das Thema „Generationenraumschiffe" bzw. die Suche nach einer zweiten bewohnbaren Erde fasziniert noch immer die Autoren. Bernard Craws „Prüfung" und Matthias Falkes „Die Geschichte der MORNING D" behandeln diese beiden untrennbar mit einander verbundenen Themenkomplexe auf sehr unterschiedliche, aber trotzdem überzeugende Weise. Während Craws geradliniger Dialoglastiger Text den Menschen als das schwächste Glied entlarvt, spielt Matthias Falke in den ersten Kapiteln seiner Geschichte dank Kloning ganze Lebenszyklen intensiv, kompakt, aber auch distanzierter erzählt durch. Es fällt schwerer, sich mit Matthias Falkes zahlreichen Protagonisten zu identifizieren, während Craws durch Schwächen gekennzeichnete tragische Figuren deutlich sympathischer, dreidimensionaler erscheinen. Verhalten optimistisch endet „Prüfung" mit der fast zynischen Erkenntnis, dass es besser ist, keine wirkliche Entscheidung zu treffen und den Dogmen zu folgen als etwas zu riskieren. Matthias Falke dagegen entwickelt auf familiärer Ebene fast eine Vision Olaf Stapledons, in welcher der künstlich geschaffene Verbund der Großfamilie sich gigantischen Aufgaben widmet. Wie schon angesprochen zwei sehr gegenläufige Sichtweisen eines großen Themas, die vor allem in der Gegenüberstellung durch Originalität und Stil Sicherheit überzeugen. Illustriert von Hubert Schweizer – „Die Geschichte der MORNING D" sowie Raven of Light zwei sehr schöne Beiträge zum Hauptthema dieser Exodus Ausgabe.

Frank W. Haubolds „Am Ende der Reise" fällt auch in die Kategorie einer Suche nach dem Unbekannten. Ein Kapitän hat sich mit seinem Raumschiff von der Zivilisation in die Unendlichkeit im Grunde zum langsamen Sterben verabschiedet. Ob ihm seine Vergangenheit real oder als Visionen – hier spielt der Autor mit einer Hommage an Lems „Solaris", ohne explizierte Erklärungen abzugeben - erscheint, bleibt offen. Der Verlauf und auch das Ende der Geschichte sind vorhersehbar, aber wie bei vielen Haubold Texten ist der Plot seiner stilistischen Begabung untergeordnet. Wie nur wenige gegenwärtige deutsche Science Fiction Autoren kann er eine einzigartig melancholische, aber nicht nihilistische Atmosphäre mit bodenständigen wie überzeugend charakterisierten Protagonisten erzeugen. Emotional ohne ins Kitschige abzugleiten erzählt er von dieser letzten Reise in die Tiefe des Alls. Das ein Dialog mit einer künstlichen Intelligenz sich nahtlos in diese lebensmüde traurige Stimmung einreiht, unterstreicht Haubolds erzählerische Fähigkeiten.
Antje Ippensen ist mit zwei Beiträgen in der vorliegenden Ausgabe vertreten. In ihrem Essay "Kosmisches Löwenzahn" geht sie auf die bisherigen "Exodus" Ausgaben 25 bis 27 ein. Sie reflektiert sowohl die graphischen Beiträge als das sie auch über die Kurzgeschichten philosophiert. Etwas zu optimistisch hebt sie einige Kurzgeschichten trotz deren Mängel heraus. Der zu positive Grundtenor entwertet einige ihrer Aussagen, auch wenn ihre Hinweise auf die inzwischen beachtenswerte Vielfältigkeit der "Exodus" Ausgaben insbesondere im graphischen Bereich wirklich zum wiederholten Durchblättern und Betrachten der zahlreichen farbigen Arbeiten verführt.
"Quanten Quata" ist eine Reise aus der Zukunft in eine ebenso ferne Parallelwelt. In dem Text steckt sicherlich eine deutlich größere Story. Der eigentliche Plot - Begegnungen der Protagonistinnen und ein Auftragsmord - ist im Grunde nicht sonderlich wichtig und dient eher als Basis für die Stimmungen, die Antje Ippensen mit ihren interessanten weiblichen Figuren ausdrücken möchte. Ein Hauch Sadismus - niemals expliziert - zieht genauso durch die Story wie die Überlegenheit der Frau gegenüber den eher dummen und naiven Männern. Die Hintergrundbeschreibungen sind exotisch und erinnern an die französischen Science Fiction Comics in den "Schwermetall" Magazinen bzw. Luc Bessons "Das fünfte Element", wobei die eigentliche Handlung nicht ganz befriedigend ist.
Wolf Wellings "Venezia Muore" gehört atmosphärisch zu den intensivsten und dichteten Texten dieser "Exodus" Ausgabe. Venedig ist durch die steigenden Meeresspiegel zum Untergang verdammt. Die Stadt ist evakuiert worden, der Protagonist hat sich durch die Absperrungen zum Sterben in die Stadt geschlichen. Auf diesem fast nihilistischen Bilderreigen aufbauend hätte Welling mit weniger mehr erreicht. Vielleicht eine subtile, tragische Liebesgeschichte oder wie in Thomas Manns "Tod in Venedig" einen Moment des perfekten Glücks vor dem Eintreten des Todes. Der Kult inklusiv der einer Farce ähnelnden Gerichtsverhandlung inklusiv des entsprechenden Urteils sind zu wenig vorbereitet, kommen aus der Luft und wirken zu stark konstruiert. Das Ende mit der Erkenntnis, selbst zur Feder zu greifen, während alles perfekt überwacht und archiviert wird, ist zufrieden stellender als bei einigen anderen Texten dieser "Exodus" Ausgabe, wirkt aber angesichts des sehr schönen, stimmigen Auftakts zu sanft, zu wenig emotional. Thomas Frankes Graphik wirkt angesichts der von Wolf Welling erzeugten Stimmung eher kontraproduktiv und lässt die Geschichte emotional kälter erscheinen als sie über weite gelungene Strecken in Wirklichkeit ist.

Für die Science Fantasy in dieser Ausgabe ist Rolf Krohn mit "Silberlicht" zuständig. Eine stimmungstechnisch sehr intensive und atmosphärisch dicht geschriebene Geschichte, die leider zu offen aufhört, wenn der Autor den obligatorischen Schritt von der Exposition zum eigentlichen Plot machen sollte. Der Ich- Erzähler begegnet zum ersten Mal auf einem im Wasser treibenden Segelschiff einem geheimnisvollen Licht, das anscheinend ein Tor zu anderen Welten sein könnte. Es ist schade, dass dieser solide geschriebene und interessante Auftakt in Mutmaßungen endet. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wenn dem Autoren ein Bild durch den Kopf geschossen ist, das er in Worte fassen, aber nicht in eine Geschichte umwandeln konnte oder wollte. Thomas Hofmann hat aber eine schöne Graphik beigesteuert.

Erik Simons „Thalassa! Thalassa!" kommt als „andere Reisen" ohne phantastische Elemente aus. Die von ihm erzähltechnisch gewählte Berichtsform kommt seinem nüchternen, distanzierten Stil entgegen. Er beschreibt die Odyssee eines römischen Legionärs nach seiner Gefangennahme durch exotische Länder, anfänglich angetrieben durch seine Wächter, später auch aus natürlicher Neugierde. Wie bei einer Reihe anderer Texte endet dieser Bericht eher frustrierend offen. Kaum nähert sich der Erzähler den wirklich interessanten wie exotischen Gefilden, schließt er seine Erzählung ab und übergibt sie der Nachwelt.
Den Abschluss bildet erzähltechnisch Frank Neugebauers "Rückreise". Ein Leben rückwärts zu leben - wie der Autor selbst ausdrückt - ist keine neue Idee. Die Neugierde des Lesers wird auf den Punkt konzentriert, der auf die Geburt/den Tod folgt. Während man anfänglich noch glauben könnte, dass Frank Neugebauers spärlich, aber interessant charakterisierter Erzähler unter Alzheimer leidet, schafft es der Autor nicht, bis auf einem ominösen Hebel und Gottes ungesichertes Refugium dem Plot wirklich neue Ideen beizufügen. Immer wenn es bei dieser Art von Geschichten interessant wird, flüchten sich die Autoren nicht selten in ominöse wie offene Ende und befriedigen die Neugierde der Leser trotz manch interessanter Erzählstruktur - wie es bei "Rückreise" der Fall ist- zu wenig.

Michael Haitel stellt oder besser versucht den für die farblich graphische Seite verantwortlichen Künstler Lothar Bauer vorzustellen. Lothar Bauer hat in den letzten Jahren viele semiprofessionelle Magazine mit seinen Arbeiten futuristischer und exotischer erscheinen lassen. Die zahlreichen in der bekannt sehr gehobenen Qualität abgedruckten Bilder geben einen kleinen Eindruck über die künstlerische Vielfältigkeit seiner Arbeiten, wobei – wie schon angesprochen – die Frauen eher exotischer als schön erscheinen. Sie sind aber auch zusätzlich in den abgedruckten Beispiel zu „künstlich", zu unnatürlich, während die fremdartigen Landschaften deutlich besser zur Geltung kommen. Das Titelbild dieses Exodus Themenbandes ist allerdings die beste, das Auge des Betrachters sehr geschickt einfangende abgedruckt Arbeit Bauers.
Zusammengefasst präsentiert sich „Exodus 28" aufgrund des die einzelnen Geschichten in interessanten Variationen verbindenden Gesamtthemas auf einem mindestens soliden, teilweise sehr guten Niveau mit den inzwischen obligatorischen überdurchschnittlichen, technisch sehr variablen Graphiken, aber auch einer Handvoll überdurchschnittlicher Geschichten. Stilistisch gibt es keine Ausreißer nach unten. Einige Autoren haben noch Schwierigkeiten, ihre interessant eingeleiteten und plottechnisch originellen Geschichten mit einer überzeugenden Pointe oder zumindest einem nicht zu offenen Schluss zu beenden. Gegenüber der letzten geschichtentechnisch eher durchschnittlichen Ausgabe eine deutliche Steigerung, zumal das Thema „Von fernen und anderen Reisen" die Phantasie der hier versammelten Autoren sehr positiv beflügelt hat.

rezensiert von Thomas Harbach auf SF-Radio.net