Wieder einmal liegt ein dickes Ding auf dem Tisch. 112 Seiten mit Erzählungen, die themenbezogen illustriert sind und sich lesefreundlich aufgemacht dem Interessenten präsentieren. Die Eckdaten sind wie immer vielversprechend. Zwölf Erzählungen hat das nimmermüde Trio um René Moreau, Heinz Wipperfürth und Olaf Kemmler dieses Mal zusammengetragen und verzichtete dabei darauf, ein Leitthema für die Kurzgeschichten vorzugeben.

Den Einstieg bestreitet Rolf Krohn mit seiner Erzählung „Die Schraube". Er schildert den Alltag einer Raumschiffsbesatzung, deren Job die Raumreinigung ist. Ja, ernsthaft, kein Witz! Die Besatzung der AUGUSTIN C 121 durchstreift das Sonnensystem, um den interplanetaren Raum nach Meteoriten, Trümmerstücken und ähnlichen Dingen zu durchsuchen, die auf Kollisionskurs zur Erde gehen könnten. Also eine durchaus sinnvolle Weltraum-Putze. Natürlich bleibt es nicht bei der Routine – denn auf diesem Flug kreuzt ein Fundstück ihre Bahn. Allerdings ein gänzlich unerwartetes, denn es enthält Metall, reines Metall! Was könnte das wohl sein? Und nein, ich verrate es nicht. Nur soviel, die Lektüre dieser Geschichte lohnt sich.


„Opinion Engineering" von Michael Iwoleit führt uns in eine Welt, die der unsrigen gar nicht so unähnlich ist. Auch hier ist das Internet weltumspannend und Meinungsbildung geschieht im Web. Seine Hauptfigur geht Kontrakte auf Honorarbasis ein. Er ist ein Freischaffender. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. Jedoch die Art der Tätigkeit. Sein Job besteht darin, sich Informationen über eine Zielperson zu beschaffen, Gerüchte, Halbwahrheiten und Verleumdungen zu Meldungen zusammenzustellen, um diese sowohl ins Internet zu stellen als auch über die Medien zu verbreiten. Keine Frage, moralisch ist das nicht. Seine neueste Zielperson ist Konrad Balkhausen, der ein Import-/Export-Unternehmen in Schwerin gründete, in die Politik ging und in der CDU-Landtagsfraktion den Moralapostel gibt. Sein Klient ist bereit, eine ganze Stange Geld in die Hand zu nehmen, um die Glaubwürdigkeit von Balkhausen zu erschüttern. Am besten eine Enthüllungsstory, etwas Sexuelles zum Beispiel.

Was unser Meinungsmacher zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, seine derzeitige Freundin, die schnarchend im Bett neben ihm liegt, ist die Tochter der Zielperson. Dem Leser schwant dieser Umstand schon frühzeitig, was der Spannung jedoch keinen Abbruch tut. Michael Iwoleit strickt ein Szenario, in dem Designerdrogen, Hacker, Kameraüberwachung, Mustererkennungsverfahren und Klonzüchtung als Organspender für zahlungskräftige Perverslinge eine Rolle spielen. Erschreckenderweise hat man beim Lesen das Gefühl, dass diese Fiktion erschreckend realitätsnah daherkommt.
Einzig der Schluss, der die Erzählung passend zynisch beendet, überraschte mich. Irgendwie hatte ich mich auf eine unerwartete Wendung eingestellt oder diese erhofft, bei der der Ich-Erzähler ebenfalls sein Fett wegbekommt. Na ja, man kann nicht alles haben.

Mit Olaf Lahayne geht es in den „Cirque du Courant". Das könnte man mit „Zirkus der Strömung/Bewegung" übersetzen. Oha, ein ganz schön eigenwilliges Motto. Das ist nun kein gewöhnlicher Zirkus und keine Aufführung, wie wir sie kennen. Anstelle der ordinären Sitzbank, gibt es den Body Chair, der wie ein Relax-Sessel gestaltet ist. Außerdem 3D-Maske und Cyber Gloves als Zugabe. Spätestens jetzt wissen wir, die Leser, uns erwartet eine Zirkusvorstellung mit virtueller Realität im Huckepack. Die Artisten tragen Anzüge mit Markierungspunkten und nach Anlegen des 3D-Equipment erwartet die Besucher ein aufregendes Spektakel. Die Artisten agieren live, werden dabei von mehr als hundert Kameras aufgenommen, die Szene in einem Super-Computer gerendert und künstlerisch verfremdet. Jeder Besucher erhält so den Eindruck seiner ganz eigenen Privatvorstellung. Das ist der Plan. Wären da nicht zwei Aktivistinnen, die das Ganze gar nicht lustig finden. Denn, wie so oft, die Entwickler neuer Technologien gucken in die Röhre, weil ein anderer die Patentrechte erworben hat.

Also hacken sich die beiden mittels eingeschmuggelter Netbooks in den Super-Computer und nutzen so die Gelegenheit, die Zuschauer in ein ganz privates Horrorkabinett zu führen. Passend zur Begleitmusik Danse macabre, demonstrieren sie, was man mit den persönlichen Daten der Zuschauer anstellen kann, weil diese am Zirkus-Eingang den Scan ihrer Gesundheitskarte zuließen. Ja, doch, lesenswert.
Machen wir einen Sprung in den „Käfig" von Klaus N. Frick. Seiner Erzählung spielt tatsächlich in einem Käfig. Einem absonderlichen Gefängnis, das Grau in Grau gehalten ist, keine Einrichtung hat und aus merkwürdigem Material besteht. Die Story beginnt als Klaus, der Ich-Erzähler, in seinem Käfig Besuch bekommt. Plötzlich erscheint eine Öffnung in der Wand (Formenergie?) und eine nackte Frau wird von einem Transportfeld in seinem Gefängnis abgelegt. Jennifer, geschätzte 25, nahtlos gebräunt, hübsch, spricht englisch mit amerikanischem Akzent. Aha, sagt sich der erfahrene Leser. Hier geht es um Außerirdische, Entführung, Gefangennahme und nun erwarten wir, dass das geschieht, was uns aus einer Bemerkung aus dem SF-Film INDEPENDENCE DAY bekannt ist: „... und dann haben sie Dinge mit mir gemacht..." Na ja, diese Dinge können die beiden jetzt ja machen. Erstaunlicherweise kippt die Darstellung nicht ins peinliche Klischee. Die Erzählung ist gelungen, bezieht ihre Dichte und Spannung allein aus der Beschreibung der beiden Hauptpersonen und wie diese mit der Situation umgehen. Auch mit ihrer Nacktheit. Über die Entführer bzw. die Gefängnis-Wärter erfahren wir nichts. Die geheimnisvolle Technologie des Käfigs wird nicht erklärt. Die einzigen Hinweise, die der Autor im Nebensatz einfließen lässt, ist seine Vermutung, auf einem Planeten mit einem 18-Stunden-Tag zu sein und dort als Zootier ausgestellt zu werden. „Guck mal Mami, da! Ein Primat vom Planeten Erde." Na, klasse! Wie es weitergeht mit Jennifer und Klaus? Selbst lesen macht schlau. Die Erzählung ist ungewöhnlich und zumindest ich betrachte jetzt die lustige Sendung PANDA, GORILLA & CO., im Nachmittagsprogramm des NDR, mit ganz anderen Augen. Da sage ich doch artig „Danke, Klaus."

Wie wäre es zur Abwechslung mit etwas Weisheit? Zum Beispiel mit „Die Maschine der Weisen" von Armin Möhle? Doch Vorsicht, es wird religiös! Sein Prolog beginnt mit „Luther, Martin (1483 – 1524): Mönch und Priester..." und wir lesen weiter „...nachdem Papst Leo X. 1520 die Bannbulle Exsurge Domine gegen Luther erlassen hatte, unterwarf sich dieser und widerrief." He, Moment mal – Luther hat doch nicht widerrufen! Gibt es da nicht jenes Zitat: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen." Ein rascher Blick auf WIKIPEDIA und beruhigtes Aufseufzen des Evangelen. Der Möhle, der Böse, verdreht die Geschichte. Immerhin ist jetzt klar, es geht um einen alternativen Geschichtsablauf. Mit einem Zeitsprung von knapp 500 Jahren landen wir in der Gegenwart, der alternativen Gegenwart, versteht sich. Wir finden uns im CERN-Kontrollraum wieder und lauschen gebannt den Worten von Christopher Adams, Generaldirektor der EUROPEAN ORGANIZATION FOR NUCLEAR RESEARCH: „Wir können Blei in Gold verwandeln. Das Verfahren ermöglicht die Goldsynthese in einem wirtschaftlichen Rahmen." Er erläutert die Vorgehensweise mit dem weltgrößten Teilchenbeschleuniger Kardinal Francis Betori und dessen Begleiter Pater Theodore McCarrick. Da er um die Problematik der Experimente weiß, bittet er die beiden Kirchenmänner um Zustimmung für die Fortsetzung der Experimente und den Segen des Heiligen Vaters. Vielleicht hätte er lieber um die Seligsprechung Luzifers bitten sollen, denn die Antwort folgt prompt: „Sünde bleibt Sünde, Häresie bleibt Häresie, ob sie im achtzehnten Jahrhundert oder in der Gegenwart begangen wird. Ihr Alchemisten begebt euch nicht in den Schutz von Jesus Christus als makellosem Beschützer vor den dunklen Mächten. Dafür werde ich Euch der Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis überantworten!"
Aua! Wenn es etwas gibt, das die Katholen perfekt beherrschen, dann natürlich brennen, nageln, foltern – in umgekehrter Reihenfolge natürlich.

So hatte sich Christopher Adams den Gesprächsverlauf wohl nicht vorgestellt. Doch er hat Glück, denn der ehrenwerte Pater McCarrick ist pragmatischer. Nach kurzem Disput mit dem Kardinal darf der Generaldirektor des CERN seine Arbeitskraft und die seiner Mitarbeiter, in den Dienst des Päpstlichen Stuhls stellen. So kann er künftig mitwirken an der Missionierung der Welt und der Verbreitung des Glaubens. Darauf ein Halleluja!

Kann das gut gehen? Nein, natürlich nicht, denn jetzt folgt der lakonische Epilog: „Die Effizienzsteigerung der Goldsynthese führte nicht nur zu einem exponentiellen Anstieg der Missionsbestrebungen der Katholischen Kirche, sondern auch zu ihrem wirtschaftlichen Zusammenbruch, da das durch die nukleare Transmutation hergestellte Gold aufgrund seiner Menge rapide an Wert verlor." Und weiter zitiert Armin Möhle aus dem Datenfile der Atheistischen Liga: „Heute ist die Heilige Katholische und Apostolische Kirche, wie sie sich selbst nannte, auf den Status einer Sekte mit mehreren zehntausend Anhängern geschrumpft."
Hätte der Autor diese Erzählung in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfasst, sie hätte prima in das Fanzine (Magazin?) SAGITTARIUS 11, das Themenheft Religion der Edition Bogenschütze gepasst. Aber auch heute kann ich darüber schmunzeln.

Jedoch, in einem gehe ich mit Armin Möhle nicht konform. Nämlich im CERN die Annahme der Goldsynthese anzusiedeln. Wobei ich nicht die technische Seite meine. Nehmen wir einmal an, Luther hätte widerrufen, Isaac Newton wäre als Ketzer hingerichtet worden (ups, hatte ich das nicht erwähnt?), dann stellt sich mir die Frage: Würde eine so staatstragende und machtvolle Kirche Konkurrenz durch Wissenschaft und Technik zulassen? Jegliche Forschung und Wissenschaft wäre eine Gefahr für die Macht und ihren Alleinvertretungsanspruch. Ergo – der Bau und Betrieb des CERN wäre schon Ketzerei hoch zwei! Für Interessenten an diesem Thema verweise ich auf David Webers Reihe NIMUE ALBAN, in der dieser eine planetenbeherrschende und technikfeindliche „Mutter Kirche" schildert.

Das waren jetzt fünf von zwölf (statt Seven of Nine). Ich habe nicht vor, auf jede einzelne Erzählung einzugehen. Tatsächlich gab es auch Kurzgeschichten in EXODUS, die mir nicht zusagten. Ich denke, das ist bei der Menge und der Themenvielfalt unvermeidlich. Wenn ich etwas zu kritisieren habe, dann zum Beispiel, dass mich die EXODUS-Galerie von Thomas Franke nicht angesprochen hat. Etwas schade ist auch, dass die Rubrik „Personalia – die Autoren und Künstler", in 8 Punkt Schriftgröße (!), ein Schattendasein am Ende des Heftes führt. Das erforderliche Nach-Hinten-Blättern nervt. Kann man das nicht ändern? Ich weiß, wahrscheinlich rollt jetzt ein gewisser Herr Kemmler mit den Augen oder steht kurz davor, frustriert in den Berberteppich zu beißen.

Bevor es soweit kommt: EXODUS setzt nach wie vor den Maßstab bei Kurzgeschichten und Erzählungen, das Preis-/Leistungsverhältnis geht in Ordnung und ein Hingucker im Regal ist es außerdem.

Günther Freunek, Osnabrück in: Fanzine-Kurier # 153 sowie Andromeda Nachrichten 240

Andromeda Nachrichten 240 , SFCD e.V., Murnau, Januar 2013, 96 Seiten A4, EUR 8,00 - ISSN 0934-3118 - Bezug: archiv@sfcd.eu