Thomas Harbach zu EXODUS 33:

»Exodus 33 ist die zweite Ausgabe des Jahres 2015. Das Herausgeberteam hat sich sehr viel Mühe gegeben, neben der bekannten Synthese aus Bild und Text vor allem eine breite Palette von phantastischen Themen begleitet sogar von aktuellen politischen Cartoons anzubieten. Höhepunkt ist ohne Frage die Galerie von Timo Kümmels Titelbildern. Christian Endres stellt den Künstler vor. Kümmels Bilder – viele sind vom Atlantis Verlag und wirken in diesem größeren Format noch eindrucksvoller – zeigen seine Bandbreite. Vor allem, weil er ausschließlich am Computer arbeitet und trotzdem phantastische wie realistische Landschaften erschafft. Aber Kümmel ist nicht alleine in einer visuell interessant gestalteten Ausgabe.    

Tobias Tanlius "Der Letzte seiner Art" ist eine dieser melancholischen Geschichten, in denen ein aus heutiger Sicht normaler, in der distanzierten Zukunft natürlich archaisch erscheinender Taxifahrer mit dem Widrigkeiten einer Umwelt kämpft, die sich gänzlich von Emotionen entfernt hat. Solide geschrieben mit einer netten, aber nicht überzeugenden Pointe überdecken die Stimmungen den Plot.

Dass es zum Thema Nanobots tatsächlich noch etwas Neues und vor allem Originelles gibt, zeigt "Der Zwillingsfaktor" von Christian Weis. Auch wenn die Kampfszenen im Sudan eher der Exposition dienen, überzeugt die zwangsweise über eine emotionale Verbindung  hinausgehende  Beziehung von Zwillingen über die unerwartete Schwangerschaft der Mutter nach der Einpflanzung der Bots. Solide gezeichnete Figuren getrieben von Aktionen, die sie nicht verantworten können oder müssen. Christian Weis beschreibt selbst die unmögliche Zwitterstellung der Freundin zwischen ihrem Geliebten und dessen Zwillingsschwester, deren Verbindung viel enger ist als sie bei Paaren überhaupt sein kann. Ohne Schuldzuweisungen oder gar gesellschaftlich technokratische Kritik beschreibt Christian Weis diese von den wie Vampire agierenden Bots dominierte Beziehung intensiv wie überzeugend bis zum konsequenten wie tragischen Ende.

Bei „Out of Memory“ aus der Feder Christian Endres ist im Grunde der Titel der Geschichte auch Programm. Der Ich- Erzähler begegnet einer schönen Frau, die sich buchstäblich an nichts erinnern kann. Eine geschickte Extrapolation der Cloud Technologie soll den Menschen helfen und macht sich endgültig abhängig. Stringent erzählt mit Hardboiled Dialogen ist das Ende zu pragmatisch und vor allem zu opportunistisch, so dass man leicht unterhalten wird. Wie bei einem Fast Food Menü. Allerdings bleibt der Autor an der Oberfläche. Vielleicht sollte er die gute Prämisse als Ausgangspunkt für eine Novelle nutzen. Begleitet wird Christian Endres von einer der letzten Arbeiten des in 2015 verstorbenen Crossvalley Smith

Auch Arno Behrend spielt mit der Idee der virtuellen Identitäten in „Friendly Faces“. Bei Google View können die Menschen ihre Gesichter „verbergen“ und damit ihre Identitäten im Grunde auch nicht wenig ändern. Findige Filmfirmen nutzen aber die zur Verfügung stehenden Aufnahmen mit realen Menschen, um sie in ihre computerisierten Filme einzubauen. Als eine dieser Designerinnen sich in ein Abbild verliebt, folgt der Plot bis zur leider vorhersehbaren Pointe – eine menschliche Komponente kann selbst die Zukunft nicht ausschalten – einigen Schemata. Auffällig ist auch, dass Arno Behrend zu Beginn stilistisch ausgesprochen bemüht agiert und keine wirkliche Atmosphäre aufbauen kann. Es ist eine seiner schwächeren Kurzgeschichten.

Zu fernen Welten geht es in zwei Geschichten dieser Sammlung. Michael Tillmann präsentiert mit „Agnosticca - Planet der leeren Säulen“ eine weitere seiner Planetengeschichte. Die Exposition ist inzwischen ermüdend. Warum der Autor nicht zum ersten Mal den Unterschied zwischen der Fiktion der Science Fiction Literatur und seinen angeblich authentischen Berichten herausarbeitet, kann nicht nachvollzogen werden. Ein wenig übertrieben mit der Holzhammermethode erscheint auch, dass die Außerirdischen auf dieser Agnostikerwelt mit ihren Hufen und Hörnern vielleicht eher mit dem Teufel tierisch verwandt sind als es der Autor selbst vermutet hat. Ausführliche Beschreibungen gehen schließlich in pointierte Dialoge über. Das zynische bis bitterböse Ende ist der Höhepunkt der Geschichte, die durch den steifen und distanzierten Erzählstil strukturtechnisch sehr viel „älter“ erscheint als sie in Wirklichkeit ist. Ohne Frage ist dieser Zyklus interessant aufgebaut, aber Michael Tillmann sollte sich überlegen, ob der pastorale Stil wirklich zu seinen Ideen passt.
Ambitionierter ist Victor Bodens von ihm selbst illustrierte Geschichte „Das rote Gras“. Eine Expedition hat einen fremden, paradiesischen Planeten entdeckt. Mittels einer virtuellen Rekonstruktion behalten die zurück gekehrten Astronauten die wichtigsten Aspekte dieser Welt ihm Gedächtnis, während die Menschheit trotz manipulierte Daten nicht mehr zu halten ist.  Wie bei einigen anderen Texten dieser Sammlung erdrückt der Inhalt die Form der Geschichte. Vor allem mit jeder weiteren inhaltlichen Offenbarung wünscht sich der Leser mehr Informationen. Der Autor wird aber immer vager, so dass es schwer ist, zwischen „Realität“ und virtueller Realität zu unterscheiden. Auch bleiben einige Hintergründe im Dunkeln, so dass vor allem die atmosphärisch interessanten Beschreibungen dieser Welt den Leser eher faszinieren als die teilweise zu eindimensional gezeichneten Figuren.  

Olaf Kemmlers „Expedition nach Eden“ ist der gelungene Versuch, neben aktueller Politik an der Egozentrik und der Diktatur in Konzernen von oben nach unten eine Art perfiden Krimi zu schreiben, in dessen Verlauf sich die Elite von nur noch 22 Menschen bzw. Konzernführern – hier bleibt der Autor ein wenig wage, ob der Rest nur noch aus willigen Maschinen besteht oder nicht mehr zu echten Menschen zählt – gegenseitig hereingelegt und um die gigantischen Konglomerate kämpft. Als sich zwei zusammenschließen, um das Reich des exzentrischen Biogenetikers mit einem phantastischen Garten zu übernehmen, ahnen sie nicht, dass hinter der möglichen Falle vielleicht noch einmal eine Herausforderung lauert. Olaf Kemmlers Plot ist ausgesprochen dicht. So dicht, dass er auf eine detaillierte Beschreibung der Flucht aus dem künstlichen Paradies genauso verzichten muss wie auf eine deutlich vielschichtigere Anlage seiner Protagonisten oder eine bessere Entwicklung des Hintergrunds. Intensiv geschrieben wünscht sich der Leser, dass Kemmler aus dieser Kurzgeschichte vielleicht tatsächlich eine Novelle macht oder den Plot sogar zu einem Roman ausbaut. Stoff genug ist vorhanden.

Florian Hellers „Die Mär vom güldenen Nasentuch“ ist eine moderne Allegorie, die vor einem fiktiven märchenhaften Hintergrund – wobei neben Adligen und Schlössern auch mit modernen Waffen gekämpft wird – eine bitterböse Geschichte erzählt, in welcher die Jagd nach Macht und Lust dominieren. Ohne die Handlung führende Dialoge in einer absichtlich übertrieben künstlichen Sprache erzählt präsentiert sich dieses Märchen nicht immer eingehend. Vor allem der Verzicht auf zugängliche Charaktere und die eher ambivalenten, dem Korsett untergeordneten Handlungen einiger Protagonisten, das Zusammenfassen von menschlichen Grausamkeiten wie Massenvergewaltigungen sowie das abschließende eher bemühte Ende machen den Zugang schwerer als bei anderen Texten dieser Ausgabe. 

Boris Koch fügt mit der kurzen Episode „Ein glücklicherer Ort“ ohne Frage einige nicht unbedingt neue, aber zumindest in der Extrapolation interessante Ideen zum Thema Zeitreise hinzu. Wenn am Ende Millionen von „Ichs“  endlich glücklich mit sich selbst sind, bleibt der Weg eher im Gedächtnis als die zu offene Pointe dieser kleinen Anekdote. „Interrogation“ von Fabian Tomasscheck behandelt eine dunkle Zukunft, in welcher die wahrscheinlich politischen Gefangenen bis in die Wurzeln ihrer Identität entblößt werden. „Y“ ist ein solcher Gefangener, der lange Zeit die Frau, die ihm seine Geheimnisse entreißen soll, vor ungeheure Schwierigkeiten stellt, bis sie die Fakten zu verändern beginnt. Eine intensive dunkle Stimmung mit einigen drastischen Beschreibungen und einem soliden, aber auch nicht konsequent genug vorbereiteten Ende.

Visuell ist Exodus 33 wie eingangs erwähnt beginnend mit der Galerie wieder eine reine Freude. Vor allem die Graphiken von Chris Schlicht, Hubert Schweizer, den beiden Frankes Thomas und Mario sowie wahrscheinlich eine der letzten Graphiken von Crossvalley Smith runden eine gute Exodus-Ausgabe zufriedenstellend ab.«

Thomas Harbach

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