Holger Marks berichtet über EXODUS 33

ANDROMEDA-Nachrichten 252 - Holger Marks rezensiert EXODUS 33:

»Eine neue EXODUS-Ausgabe ist immer in mehrfacher Hinsicht ein Genuss. Schon das schwere, solide gemachte Magazin aus dem Umschlag zu ziehen bereitet ein haptisches Vergnügen, die von  Vorfreude auf ein paar Stunden interessanter und anregender Lektüre begleitet wird.

Dann verlieren sich die Augen und sämtliche andere Sinne in das überwältigende Titelbild. Ein umlaufendes beeindruckendes Cover von Timo Kümmel, dessen Werke diesmal sehr ausführlich in der Galerie vorgestellt werden. Als wenn das noch nötig wäre. Ist der Künstler doch mittlerweile ein gefragter Gestalter von Titelbildern von unterschiedlichen Magazinen wie phantastisch! oder NOVA oder Buchveröffentlichungen von Nicole Rensmann, Matthias Falke, Oliver Henkel, Dirk van den Boom oder auch Piers Anthony und nicht zuletzt teurer bibliophiler Ausgaben von Romanen des Kanadiers Ian Cameron Esslemont. Schiffe und Planeten haben es Kümmel angetan, auch wenn den  Schiffen manchmal ein seltsames Schicksal widerfährt. Menschen hingegen bleiben klein und undeutlich vor gewaltiger Kulisse. Mit wenigen Ausnahmen, wie das melancholische „Hometown“ aus dem Jahr 2009 beweist. Ein fragender verlorener Blick auf ein fliegendes Seepferdchen ist die einzige Gelegenheit überhaupt ein Gesicht zu sehen. Aber auch in diesem Fall bleibt das menschliche Wesen fremd und seltsam verletzlich. Dafür gelingt es Timo Kümmel in beeindruckender Weise die Tür zu fremden Welten und anderen phantastischen Gefilden aufzustoßen und den Geist in fremde Welten zu entführen. Da verwundert es nicht, dass dem Künstler fast ein Fünftel des gesamten Umfanges gewidmet wird.

Es bleibt ja immer noch genug Platz für hervorragende Geschichten. Am besten hat mir diesmal eine der kürzeren gefallen. Die Idee ist so genial wie einfach und bestechend. Sie ist kaum zwei Seiten lang und stammt von Boris Koch. Sein Protagonist zieht aus, um die Welt zu einem besseren und glücklicheren Ort zu machen. Er entscheidet sich bewusst gegen die Genetik und für die Zeitmaschine und startet ein Experiment, das von einer gesunden Selbstüberschätzung begleitet ist. Mehr kann und darf nicht verraten werden. Wer die Pointe wissen will, muss wohl oder übel die Geschichte selber lesen.

Aber diese, wie viele andere Geschichten in diesem Band, beweisen, dass es sehr wohl möglich ist, einem alten Genre noch neue Ideen abzuringen. Auch Christian Weis verarbeitet mit „Der Zwillingsfaktor“ so eine Idee. Er schildert die Erlebnisse eines Soldaten auf einer Friedensmission in Afrika, der besorgt darüber ist, dass seine Schwester zu Hause ein Kind erwartet. Denn beide haben in ihrem Körper Nanobots, die von ihrer Mutter auf ihren Organismus übertragen wurde. Nun sind sie sich enger verbunden als normale Zwillinge und spüren auch über große Entfernungen die gleichen Bedürfnisse. So ahnt der Soldat bereits, dass seine Schwester schwanger ist, als er plötzlich ungewöhnliche Gelüste auf Süßes und Saures verspürt. Erzählerisch hätte man die geniale und überzeugende Grundidee sicherlich auch ohne den militärischen Strang umsetzen können, zumal dieser Teil manchmal etwas gewollt wirkt – aber immerhin ermöglicht sie am Ende einen tragischen Heldentod.

Was kann eigentlich alles passieren, wenn man seine Gedächtnisinhalte und Erinnerungen in der Cloud ablegen kann? Sie könnten gestohlen werden. Sicherlich, aber in dem Fall von Christian Endres „Out of Memory“ liegt der Fall einfacher und ist daher von dem „private Eye“ auch schnell gelöst. Dazu passt der nahezu rasante Erzählstil der Geschichte. Kurze, abgehackte Sätze, einzelne Worte, Rumpfsätze, nahezu jeder Satz ein Absatz, so dass der Blocksatz verschwindet. Konsequent bis zum – etwas widersprüchlichen – Ende durchgehalten. Man muss es der EXODUS-Redaktion zu Gute halten, dass sie sich nicht vor diesem literarischen Experiment verschließt. Nicht selbstverständlich in einem Genre, das doch eher konservativ geprägt ist. Die passende und wunder bar umgesetzte Illustration zu dieser Geschichte stammt übrigens von dem kürzlich verstorbenen Crossvalley Smith.

Victor Boden ist zumindest für mich ein neuer Name, auch wenn der Künstler schon längere Zeit literarisch unterwegs ist. „Das rote Gras“ handelt von einer Raumschiffsbesatzung, die mit den Nachwirkungen des Fluges zu einem unbekannten Planeten zu kämpfen hat. Fast könnte man anhand der Zwiespältigkeit der Gedanken und der widersprüchlichen Handlungsweise denken, dass die bemannte Raumfahrt nichts für den Menschen ist. Die stilistisch sehr ausgefeilte Geschichte vermittelt das Gefühl von Sehnsucht und Leere und den Wunsch der Astronauten, den entdeckten Planeten für sich haben zu wollen, auf eindringliche Weise.

Ohne Götter ist besser, oder?“ Diese rhetorische Frage stellt der Bewohner einer fremden Welt dem Anthropologen, der das Geheimnis von „Agnostica – Planet der leeren Säulen“ ergründen will. Die Geschichte, die im ersten Teil ein wenig wie eine entwicklungspsychologische Abhandlung daher kommt, entwickelt im zweiten Teil einen umwerfenden und gerade zu aktuellen Charme. Inspiriert wurde sie durch das Bild „Titan“ von Michael Hutter, das die EXODUS-Redaktion natürlich auch mit abdruckt. Sie reiht sich nahtlos in die anderen Planeten-Geschichten von Michael Tillmann ein.

Die Geschichte von Mitherausgeber Olaf Kemmler beginnt spektakulär: „Seit vielen Jahren lebten auf der Erde nur noch dreiundzwanzig Menschen. Die meisten davon waren der Meinung, dass das zweiundzwanzig zu viel sind.“ Wer möchte bei einem solchen nicht sofort weiter lesen? Als nun einer der Dreiundzwanzig verschwindet, machen sich seine Nachbarn auf, sein Erbe anzutreten. Aber natürlich ist es alles in mehrfacher Hinsicht anders als es scheint. Ein wunderbares Stück über gierige Kapitalisten, die sich eine Gesellschaftsform die nicht auf Herrschaft und Macht beruht, gar nicht vorstellen können. Außerdem ist die Geschichte gespickt mit vielen originellen und skurrilen Ideen im Kleinen und daher eine wahre Lesefreude.

Florian Heller steuert „Die Mär vom güldenen Nasentuch“ bei. Ein allmächtiger König verfällt der Spielsucht und verspielt schon mal an einem Abend sein Schloss, den Prinz, die Prinzessin und das gesamte Königreich. Für einen Allmächtigen hat dergleichen Zockerei allerdings kaum Folgen, landen die unglücklichen Gewinner doch schneller im Kerker, als sie sich an ihrem Gewinn freuen können. Nur dergestalt geht der Reiz des Spiels schnell verloren und der König ruft nach einem Weisen, der sein Leben wieder spannend und lebenswert machen soll. Und damit beginnt das Drama. Die Geschichte, die komplett ohne wörtliche Rede auskommt und dadurch recht lang wirkt, hat viele nette Ideen und lebt auch vom Widerspruch zwischen der Märchenfiktion und verwendeter moderner Technik. Letztlich ist sie eine wunderbare Persiflage auf die Macht und die Mächtigen, die sich ihrer eigenen Widersprüchlichkeit gar nicht bewusst sind.

„Friendly Faces“ haben es einer Designerin in Arno Behrends Geschichte angetan. Auf der Suche nach dem Eigentümer eines Gesichtes reist sie bis nach Brasilien. Aber nicht diese Suche macht die Geschichte aus, sondern die Ausführlichkeit und Konsequenz mit der Arno Behrend die heutigen technischen Möglichkeiten weiterspinnt. Filmsequenzen werden am Computer erstellt und Menschen mit Hilfe von GoogleView in die Szenen hineinkopiert. Menschen sehen die Welt nur noch durch Datenbrillen und können so auch kontrollieren, was sie sehen. Die Geschichte steuert langsam und ruhig auf einen konsequenten Schluss hin.

„Sensory Deprivation“ ist das Thema von Fabian Tomascheks „Interrogation“. Der absolute Entzug von Sinnesreizen der zu visuelle und auditiven Halluzinationen führen kann. Mit dieser Foltertechnik experimentiert auch die Protagonistin der Geschichte, immer unter dem Druck, Ergebnisse liefern zu müssen. So werden ihre angewandten Foltertechniken immer raffinierter und greifen immer mehr in die Sinneswahrnehmung des Delinquenten ein. Hier etwas über den Schluss zu schreiben, würde alles verraten. Es ist allein schon durch das Thema ein eindringlicher und verstörender Beitrag.

Was bleibt zu sagen? Wieder eine formidable, höchst lesens- und sehenswerte Ausgabe. Ohne EXODUS würde etwas fehlen!«

Holger Marks

in Andromeda Nachrichten 252
(SFCD e.V., Januar 2016, 80 Seiten A4, EUR 8,00 - ISSN 0934-3118)